Mein Leseziel von zwölf Büchern im letzten Jahr habe ich erreicht – und einige schöne Bücher dabei entdeckt. Und auch das neue Jahr beginnt mit einer echten Empfehlung! Habt ihr auch eine Emfehlung für mich? Ich freue mich auf eure Tipps in den Kommentaren!
Daniel Coyle: „The Culture Code“
Coyle war einer der Hauptredner einer internen Veranstalungen im vergangenen Jahr und das Thema seines Vortrags hat mich gleich gepackt: Welche Eigenschaften machen aus einer Gruppe von Menschen ein erfolgreiches Team? Auf den ersten Blick liest sich Coyles Antwort wie das Buzzword-Bingo einer Unternehmensberatung: Über „safety“, „shared vulnerabilitry“ und „purpose“ ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden. Aber Coyle schafft es, aus diesen oft luftig klingenden Begriffen praktische Handlungsmaxime zu destillieren und illustriert dies mit faszinierenden Geschichten wie dem Weihnachtsfrieden im Ersten Weltkrieg und den legendären BrainTrusts bei Pixar. Eine absolute Leseempfehlung!
Jenny Erpenbeck: „Kein Roman“
Dieses Buch ist nicht einfach zu beschreiben: Es enthält persönliche Geschichten aus Jenny Erpenbecks Kindheit in Berlin-Pankow (im gleichen Kiez, in dem ich heute lebe!), Dankesreden, Vorlesungen, Analysen und Texte zur Flüchtlingskrise 2015. Eine gemeinsame Klammer gibt es nicht, und so wirkt das Buch etwas unfertig. Nachdenklich gestimmt hat mich die ostdeutsche Perspektive auf die Wende: „Die Freiheit war ja nicht geschenkt, sie hatte einen Preis, und der Preis war mein gesamtes bisheriges Leben.“ Geschichte wird von Siegern geschrieben – deswegen sind Texte wie die Erpenbecks besonders wichtig.
Anu Bradford: „The Brussels Effect“
„The Brussels Effect“ ist eines jener Bücher, bei denen man glaubt, es reicht, einen Essay dazu zu lesen um die Idee zu verstehen: Aufgrund der Bedeutung des europäischen Marktes gelingt es der EU oft, ihre Gesetze zu einem weltweiten Standard zu machen – weil sich Firmen freiwillig weltweit daran halten oder weil EU-Gesetze Vorbild für andere Länder werden. Trotzdem lohnt es sich, das ganze Buch von Anu Bradford zu lesen, die detailliert beschreibt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit der Brussels effect seine Wirkung entfaltet – und sich fragt, ob es der EU auch in Zukunft gelingen kann, ihre Regulierungsmacht so auszuspielen wie es ihr in der Vergangenheit gelungen ist.
Julia Hobsbawm: „The Nowhere Office“
Können wir nach zwei Jahren im Homeoffice einfach so wieder zurück ins Büro gehen, so als wäre nichts geschehen? Nein, meint Julia Hobsbawm und dekonstruiert in ihrem kurzen Buch das Büro, wie wir es kennen um es danach wieder neu zu denken: Nicht als ein Ort, sondern ein Raum mit einer physischen und einer sozialen Gestalt, in der die Beziehung zwischen Arbeit und Arbeiter neu verhandelt werden muss. Vor allem aber ist Hobsbawm überzeugt, dass das Büro in Zukunft nur einer von vielen Orten der Arbeit ist, denn eigentlich ist das Büro der Zukunft „nowhere“ – nirgendwo. Ein lesenswerter Text, der zur richtigen Zeit erscheint.
Jürgen Osterhammel: „Die Verwandlung der Welt“
Dass Geschichte nicht nur Vergangenheit beschreibt, sondern auch unseren Blick auf die Gegenwart bestimmt, sieht man derzei im Ukraine-Krieg. Umso wichtiger ist der Versuch Jürgen Osterhammels, mit „Die Verwandlung der Welt“ eine Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben. Osterhammel vergleicht in seinem umfassenden Werk die Entwicklungen in Europa mit der Geschichte der restlichen Welt und orientiert sich dabei an Makroprozessen wie Urbanisierung, Industrialisierung und Alphabetisierung, die das 19. Jahrhundert (und unsere Gegenwart!) prägten wie kaum ein anderes Zeitalter davor; vielleicht hat Bundeskanzlerin Merkel Jürgen Osterhammel deswegen anlässlich ihres 60. Geburtstags für einen Vortrag ins Kanzleramt eingeladen. Jeder andere Mensch, der sich für Zeitgeschichte interessiert, sollte zumindest sein Buch lesen.
Lynda Gratton: „Redesigning Work“
Hybride Arbeit wird nach der Pandemie in vielen Firmen zum Normalfall. Daraus erwachsen neue Herausforderungen für die Organisation von Arbeit, die Lynda Gratton, Professorin an der London Business School, in diesem Buch beschreibt. Anhand von vier Schritten — ergänzt um praktische Anleitungen für die Umsetzung — beschreibt Gratton, wie Unternehmen diese Transformation gestalten können. Auch wenn die Methode stets die Gleiche ist, betont Gratton, dass jedes Unternehmen einen eigenen, unverwechselbaren Weg finden wird — und vergißt dabei auch nicht die besonderen Herausforderungen für „frontline worker“, die nicht im Homeoffice arbeiten können. Ein lesenswertes Buch!
Christopher Clark: „Die Schlafwandler“
Wie konnte die einzelne Tat eines serbischen Nationalisten zu einem Krieg der Weltmächte führen? Wie Schlafwandler, so der Historiker Christopher Clark, taumelten Deutschland, Österreich-Ungarn, England, Frankreich und Russland in den Ersten Weltkrieg: Aufmerksam und doch blind gegenüber der Gefahr eines Großen Krieges. Clark hebt die Komplexität des Gleichgewichts der Mächte am Anfang des 20. Jahrhunders hervor, in der jedes Ereignis interpretiert und gewichtet werden musste – was schließlich zu fatalen Fehleinschätzungen führte. Der Krieg, so Clark, war nicht das Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung, sondern die Folge einer Serie von kurzfristigen Schocks des internationalen Systems. In dieser Hinsicht ist das Buch heute vielleicht aktueller denn je.
Elias Hirschl: „Salonfähig“
„Salonfähig“ liest sich wie eine Geschichte von Bret Easton Ellis: In Österreich drängt triumphierend ein junger, charismatischer Mann an die Spitze des Landes, getragen von einer gutbetuchten und selbstbewussten Jugendorganisation, deren Mitglieder sich gerne mit einem Stück Sachertorte belohnen, wenn sie einem Obdachlosen etwas Kleingeld geben. Doch dann verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Rausch und die Vergangenheit holt den jungen Kanzler ein. Ein lesenswerter Roman, nicht nur für Politik-Junkies.
Gary Hamel, Michele Zanini: „Humanocracy“
Seit Frederick Taylor gehen Manager davon aus, dass sie ihren Mitarbeiter:innen genau sagen müssen, was sie zu tun haben. Unternehmen sind heute gigantische Bürokratien. Hamel und Zanini setzen diesem Management-Verständnis die Vision einer „Humanokratie“ entgegen – einer Organisationsform, die Menschen dazu befähigt, kreativ zu sein und selbstständig zu agieren anstatt wie Zahnräder einer gigantischen Maschine zu funktionieren. In kurzen Kapiteln beschreiben die Autoren die sieben Prinzipien von menschenzentrierter Führung und geben Teamleitern praktische Tipps, wie sie auf einfache Art ein klein wenig „Humanokratie“ in ihr Unternehmen bringen können.
David Burkus: „Leading from Anywhere“
Wo „The Nowhere Office“ erklärt, warum es kein Zurück zu einer Präsenzkultur im Büro gibt und „Redesigning Work“ wie sich eine Organisation auf die neue Normalität einstellt, setzt „Leading from Anywhere“ da an, wo die meisten Menschen am ehesten spüren, ob mobiles Arbeiten funktioniert oder nicht: bei der Führung. Sehr konkret und mit vielen Checklisten zeigt Burkus, wie man virtuelle Meetings organisiert, wie Teambuilding und Innovation in dezentralen Organisationen funktionieren – und sogar, wie man sich von einem virtuellen Team verabschiedet. Diese Beispiele zeigen, dass das Buch nicht alleine für Manager interessant ist, sondern schlicht für jeden Menschen, der Teil eines dezentralen Teams ist.
einzlkind: „Minsky“
Pax ist die Mitgründerin von Die Gefährten, einem riesigen KI-Konzern. Magnus ist der junge, links-konservative Kanzler Deutschlands. Im Jahr 2048 haben fast alle Länder der Erde Wahlen abgeschafft; die KI-Systeme von Die Gefährten übernehmen stattdessen die Regierungsgeschäfte – fair, unvoreingenommen und scheinbar selbstlos. Nur in wenigen Ländern – darunter Saudi-Arabien, Russland und Deutschland – gibt es noch Demokratie. Als Magnus und Pax aufeinandertreffen, geht es um die zentralste aller Fragen: Ist der Mensch fähig und willens, aus seinen Fehlern zu lernen oder müssen die Maschinen ihn vor sich selbst schützen?
Bernhard Schlink: „Die Enkelin“
Erst nach dem Tod seiner Frau Birgit, der Kaspar in den 1960er Jahren bei der Flucht aus der DDR geholfen hat, erfährt er, dass Birgit bei der Flucht ein uneheliches Kind zurückgelassen hat, das sie selber nie gesehen hat. Kaspar begibt sich anstelle seiner verstorbenen Frau auf die Suche nach der Stieftochter, die ihn in die deutsch-deutsche Vergangenheit und in das national-völkische Milieu führt, wo er schließlich seine Enkelin trifft. Ein ruhig und doch mitreißend geschriebener Roman über die drei Deutschlands nach 1989, das Erbe der DDR und alte und neue Heimaten.
Frédéric Laloux: „Reinventing Organizations“
Wo „Humanocracy“ noch etwas abstrakt über die Prinzipien menschenzentrierter Führung spricht, geht „Reinventing organizations“ noch stärker darauf ein, wie selbstorganisierende Organisationen konkret funktionieren – mit detaillierten und praktischen Informationen zu HR-Prozessen, der Rolle Support-Funktionen wie Recht und F&E und Themen wie Konfliktmanagement. Dabei bezieht sich Laloux auf Unternehmen der unterschiedlichsten Größen und Branchen und zeigen, dass Selbstorganisation nicht auf White-Collar-Arbeit beschränkt sein muss. Pflichtlektüre für alle, die progressive Organisationen aufbauen wollen – auch wenn der erste Teil, der frei nach dem historischen Materialismus eine Art teleologische Unabwendbarkeit von selbstorganisierenden Organisationen herstellen will, unnötig ist, um die Vorteile von Selbstorganisation zu betonen.
Susan RoAne: „How to work a room”
Mehr als eine Millionen Leser:innen können nicht irren, oder? Der „ultimative Ratgeber für das Knüpfen langfristiger Verbindungen on- und offline“ (Untertitel) ist am Ende nicht viel mehr als ein Knigge (Handies aus bei der Beerdigung!) mit wundersamen Geschichten („ich traf diese Frau dreimal am selben Abend; beim dritten Mal sagte sie, das könne kein Zufall sein und seitdem sind wir beste Freunde!“). Und ja, es mag sein, dass das Wetter der kleinste gemeinsame Nenner für den Beginn eines Gesprächs ist – aber in einer Zeit, in der ich online mit Menschen, die ich noch nie gesehen habe eine echte Verbindung aufbauen kann ist das Vertrauen darauf, das ein Gespräch über das Wetter zu einer echten Freundschaft führen kann eine schlechte Alternative.
Ariel Ezrachi, Maurice E. Stucke: „How Big-Tech Barons Smash Innovation“
Der (negative) Einfluss großer Tech-Firmen auf die Innovationskraft war ein breit diskutiertes Thema der letzten Jahre. Dieses Buch bietet einen guten Überblick über die Debatte, aber wenig neue Ansätze. Der Fokus von Ezrachi und Stucke liegt vor allem darauf, wie die Ökosysteme großer Tech-Firmen Innovationen in das eigene Unternehmen leiten. Nicht alle Argumente sind überzeugend oder ausreichend empirisch belegt. So beschreiben die Autoren ein Phänomen, das vielen logisch erscheint, tragen aber wenig Daten zur Unterfütterung ihrer Thesen bei.
Matt Gibberd: „A Modern Way to Live“
Dieses Jahr wollten wir unser Arbeits- und Schlafzimmer neu einrichten und das Buch von Matt Gibberd, Gründer der Immobilienseite „The Modern House“, erschien als eine gute Inspiration. Ich hatte schön in Szene gesetzten Räumen erwartet, aber „A Modern Way to Live“ ist viel mehr. Gibberd stellt fünf Design-Prinzipien für Häuser vor: Raum, Licht, Material, Natur und Dekoration und zeigt so auf abstrakte Art und Weise, was ein wohnliches Haus ausmacht. Heraus kommt ein Ende kein „Schöner Wohnen“, sonder ein echtes zu Hause. Meine Lieblingsidee: Ein Esstisch, auf dessen Unterseite sich jeder Gast verewigen darf.
Jonathan Haskel, Stian Westlake: „Restarting the Future“
In der Wissensökonomie gewinnen „unsichtbare“ Produktionsfaktoren wie Forschung und Entwicklung, Design und Branding an Bedeutung. Das erfordert auch eine Neubewertung davon, was eine gute Wirtschaftspolitik ausmacht. In ihrem exzellenten Buch beschreiben Haskel und Westlake neue Ansätze für eine progressive Wirtschaftspolitik, etwa einen anderen Blick auf staatliche Investitionen und geistiges Eigentum, neue Formen der Finanzierung für wissensintensive Unternehmen, eine Stärkung von Städten als Zentren für Innovation und eine moderne Wettbewerbspolitik. Nur mit neuen wirtschaftspolitischen Institutionen kann die „intangible economy“ eine neue Phase wirtschaftlichen Wachstums einleiten.