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Wie politisch müssen Technologie-Plattformen sein?

Wie politisch müssen Technologie-Plattformen sein?

Dem scheinbar unaufhaltsamen Drang der neuen Technologie-Avantgarde aus den USA (und zunehmend China) stemmt sich der oft mangelhafte Ausbau der Datenautobahn in Deutschland entgegen. Für die neuen Plattform-Herrscher (vgl. unser Ansatz im “Kompendium Industrie 4.0”) liefert der deutsche Mittelstand den – natürlich vollautonom vernetzten – Gabelstapler – nur der Endkunde, der bleibt ihm leider verwehrt.

Dies ist die eine Seite der Medaille. Sie verdankt ihren Erfolg unternehmerischem Geschick, einem robusten Marktverständnis, kundennaher Innovation und auch einer gehörigen Portion Glück, als Akteur der “zweiten Welle” nach dem Platzen der Dotcom-Blase in einem deutlich gereiften und damit krisenfesteren Marktumfeld unterwegs zu sein.

Diese deutlich erwachseneren Märkte existieren zunehmend als “two-sided platforms”, auf denen sich Kunden, Produzenten und Entwickler über ihre Interessen und Fähigkeiten finden. Die bekanntesten Plattformen sind Amazon, Airbnb und Uber sowie Anbieter von Enterprise-Plattformen wie Salesforce. Sie sollen hier nur als Anhaltspunkt dienen, ohne den Markt damit vollständig abbilden zu wollen.

Mit Ausnahme von SAP spielen deutsche Firmen nur eine nachgeordnete Rolle. Sie etablieren auf den neuen Plattformen zu selten Standards, entwickeln zu lange, bevor sie mit einer neuen Lösung am Markt sind und unterschätzen in oft grotesker Art und Weise die neue politische Rolle, in die die letzte Generation erfolgreicher Technologiefirmen hineingewachsen ist.

Das ist die andere – noch zu wenig beachtete – Seite der Medaille: die Lösungen erfolgreicher Technologiefirmen sind echte Alltags-, Berufs- und Lebenshelfer. Sie sind jederzeit verfügbar, der Großteil der Nutzer interagiert häufiger mit ihnen als mit seinen Mitmenschen, der Familie und Kollegen. Bis hinein in den unmittelbarsten Privatbereich (der doch “das Eigene, für sich bestehende” sein soll) sind sie permanente Begleiter. Über das smarte Heim (“Smart Home”) bis hin zur Simulation des Wahlverhaltens sind sie näher am Bürger als es der (demokratische) Staat je vermochte. Als tragende Säule der privaten Infrastruktur ist den Apps und Plattformen vielleicht sogar ein längeres Leben beschieden.

Was bedeutet dies für die neuen Technologiefirmen?

In der Tradition disruptiver Innovationsmodelle galt lange der Grundsatz “das Innovationspotenzial beginnt dort, wo der Ärger mit den (Aufsichts-) Behörden beginnt”. Früher ließen die Automobilhersteller die Schienen aus den Straßen reißen (Henry Ford in San Francisco), heute entreißt Uber der Taxi-Innung den angestammten Droschkenplatz.

Neu ist, das alle gleichermaßen betroffen sind. Die Rollen scheinen zunächst klar verteilt: Einzelschicksale werden vom Kapital doch immer dem Profitinteresse untergeordnet. Eigentlich folgen die Technologiefirmen doch nur anderen, die diesen Prozess bereits durchlebt haben, wie etwa die Energiebranche. Wer der Wirkungsrichtung nur auf einer Spur folgt (der vermeintlichen “Silicon-Valley-Überholspur”), darf sich frühzeitig bestätigt fühlen: mit solchen “Wiederholungstätern” wird die Politik schon zurecht kommen.

Dabei übersieht man leicht, dass die neuen Technologiefirmen im Kern von einer progressiven Idee getrieben sind: wie weit ist der Schritt vom thought leadership zur Verbreitung politischer Ideen? Politische Kommunikation ist schließlich ein beständiger Wettstreit von Ideen und hieraus abgeleiteten Positionen.

Wenn die neuen Technologiefirmen sich dann im Zustand einer permanenten Kampagne befinden, lokale Nutzergruppen als Verbreiter ihrer frohen Botschaft etablieren oder “Evangelisten” für deren Verbreitung beschäftigen, scheint der Schritt zur Ausübung der Rolle eines echten politischen Akteurs ein winziger zu sein.

Marketing = Absatzwirtschaft. Das hier ist etwas Anderes.

Zwischen Vertretern des politischen Raums und Repräsentanten der neuen Technologiefirmen ist ein echter Wettbewerb um die Deutungshoheit aktueller und zukünftiger Trends entbrannt. Beide Seiten versuchen kontinuierlich, die besten Experten und Meinungsführer an sich zu binden, wobei direkte Einflußnahme nur selten ausgeübt wird – es ist vielmehr ein permanentes nudging.

Daran muss nichts falsch sein, und es ist begrüßenswert, wenn sich beide Seiten auf einen Wettbewerb der Ideen einlassen. Gerade die Vielzahl der eingebundenen Meinungsführer sorgt für mehr Transparenz, eine höhere Qualität der Debatte und einen allgemeinen Erkenntnisfortschritt. Gleichzeitig nimmt ein öffentlicher Prozess beide Seiten in die Pflicht – ein Trend, der sich bis in die Belegschaften und ihr gewandeltes Selbstverständnis hinein fortsetzt.

Denn ganz so einfach ist es nicht: im gleichen Maße, in dem neue Technologiefirmen heute von der öffentlichen Akzeptanz ihrer Lösungen profitieren, sind sie in eine veränderte Rolle geschlüpft. Durch die Nähe zur Lebenswelt ihrer Nutzer lassen sich die Dienstleistungen nicht mehr auf ihren technischen Aspekt reduzieren. Wer einmal so nahe an den Nutzer herangekommen ist, kann sich nicht mehr auf die reine Vermittler-Rolle reduzieren, da mit der “Ausweitung der Kampfzone” um größtmögliche Verbreitung und Akzeptanz eine weitere Qualität hinzugekommen ist: die der Infrastruktur.

Profit und (politische) Pflicht

Das eingangs zitierte Bild vom scheinbar zwangsläufigen Sieg der neuen Marktakteure erscheint daher in mehrfacher Hinsicht fehlerbehaftet: die neuen Technologiefirmen sind über einen echten Zugewinn an Fähigkeiten – oft sprunghaft – in ihre neuen Rollen hineingewachsen. Oft haben die Passivität der politischen Akteure und das “Phlegma der Traditionalisten” (Peter Drucker) sie geradezu ermuntert, in bestehende Lücken hineinzuwachsen – man denke nur an die gerade erst angekündigte “Innovations AG” von Siemens. Dieses Dilemma hat Ludwig Siegele unter Bezugnahme auf unser Kompendium im Economist sehr schön aufgegriffen: “Volkswagen at least showed that they can do something in digital”.

In der absoluten Mehrzahl lag dem Ursprung der neuen Technologiefirmen tatsächlich eine mit vollem Ernst formulierte Mission zugrunde (die in anderen Teilen der “Gründerszene” mittlerweile hochgradig standardisiert und quasi-industrialisiert ist). Ich habe dies bereits 2002 in San Francisco erfahren dürfen: insbesondere das Silicon Valley trägt im Kern seines innovativen Selbstverständnis einen quasi staatlichen Auftrag zum Fortschritt in sich.

Der Begriff to venture (riskieren, wagen, sich erdreisten) trifft es sehr passend: bei den Start-ups ist es eben wie bei Jackson Pollock mit seinen “Action Paintings” – wer sich von der Idee vor ihrer Ausführung erst einen vollständigen Begriff machen will, kommt gar nicht erst bis zur Umsetzung. Andernorts hätte Pollock vielleicht nur einen hervorragenden Bilderrahmen konstruiert; Start-ups leben von selbstorganisierender Innovation: an Fähigkeiten gewinnt nur, wer die Instrumente seines Erfolgs systematisch nutzt.

Die neue Realität als Selbstverpflichtung leben

Werden also Unternehmen und ihre Märkte, die sich immer stärker als Plattformen manifestieren, der Politik tatsächlich immer ähnlicher? Plattformakteure sind schließlich auch als Einzelpersonen Repräsentanten der dem Unternehmenserfolg zugrundeliegenden Idee, die ihre Organisation im wahrsten Wortsinne in ein Produkt umgemünzt hat. In jedem Fall ist es eine Transformation, in der CSR und Corporate Governance einen leicht veralteten Eindruck machen: gelebtes Politikverständnis muss zu einem natürlichen Element der Unternehmensstrategie und -kultur werden. Erweiterter Wirkungsgrad und (Selbst-) Verpflichtung gehen dabei Hand in Hand.

Ist das demokratische Unternehmen die Lösung? Isabell Welpe und Thomas Sattelberger haben hierfür zuletzt vier Dimensionen entwickelt (auszugsweise im Folgenden die Dimension der neuen Souveränität): “Die neuen Arbeitsmöglichkeiten werden durch die Digitalisierung erleichtert, weil die Digitalisierung Arbeit entgrenzt, wenn es um Zeit, Ort und Partner geht. Diese Entgrenzung gilt übrigens auch für die Dimension der Unternehmenssteuerung. Die Digitalisierung ermöglicht Liquid Democracy und Open Innovation.”

Wer fühlt sich zum Architekten der neuen Ordnung berufen?

In der Gesamtbetrachtung fällt eine Lücke auf: zwar sind Plattformen, insofern sie als Märkte existieren, vertikal und horizontal organisiert. Sie sind aber keine Repräsentanten einer beliebigen Ordnung, die ihnen zugrunde liegt (vgl. “Der Körper des Königs“), sie haben keine bodiness.

Was fehlt, sind “Zwischeninstanzen”: eine Rolle, die in Deutschland traditionell der Interessenvertretungen zukommt, also Verbänden und Gewerkschaften, die nicht als reine Repräsentanten des Mitgliederkonsenses, sondern als lebendige Versammlung mit Initiativcharakter auftreten.

Hier wäre eine überraschende Renaissance der “Intermediäre” möglich, die – frei nach Alexis de Tocqueville – als force intermédiaires den Plattformen alter Prägung neues Leben einhauchen, indem sie sich endlich der Vielfalt der relevanten Akteure öffnen – und deren nudging als neues Dialogangebot sehen. Sie sollten, den Zeichen der Zeit folgend, wieder stärker aus ihrem Ursprungscharakter heraus leben und sich konsequent als Plattformen organisieren, die über Interessenkomitees fortlaufend neue Initiativen starten.

Erst dann sprechen sie die Sprache der neuen Technologiefirmen, deren Wertschöpfungsdominanz bis hin zur Ablösung und Neugestaltung einer ganzen Reihe von Berufsbildern die neue Marktordnung wesentlich prägen wird – und sind ebenso der Politik ein verlässlicher Ansprechpartner, die an den Bedingungen der neuen Ordnung frühzeitig mitarbeiten sollte.

schoessler-martinMartin Schössler ist Managing Partner von CAUSA, einer auf Public Sector Advocacy spezialisierten Beratungsfirma mit Sitz in Wiesbaden und Berlin sowie Teilhaber an jungen Unternehmen.

Als Advisor des Muammad Yunus Investment Funds fördert er Start-ups, die IT und Social Business verbinden. Er war zuvor bei Frost & Sullivan und bei The Economist in London und Frankfurt tätig. Martin Schössler promovierte mit einer Arbeit zu Alexis de Tocqueville (“Demokratie modern denken”, Amazon-Link) und studierte Philosophie, Volkswirtschaft und Geschichte an der Universität Heidelberg sowie Journalismus an der American University in Washington, D.C. Als Fellow der stiftung neue verantwortung leitete er 2011-2013 die Projekte “Future Urban Industries” sowie “Die Zukunft der Innovation”.

Aktuelle Publikationen sind das “Kompendium Industrie 4.0” sowie die Ergebnisse der Umfrage zu “Industrie 4.0 im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Politik”, sowie “Technology and Government: Better together?”

Foto: © vege (Fotolia.com)

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