Seit dem 4. September 2015, als Bundeskanzlerin Merkel und ihr österreichischer Amtskollege Faymann das Dublin-Abkommen kurzfristig aussetzten und unregistrierten Flüchtlingen eine Einreise nach Deutschland und Österreich ermöglichten, schüren konservative Politiker und Rechtspopulisten die Angst vor einer “Islamisierung” unserer Gesellschaft.
Schließlich, so die Populisten, kommen überwiegend muslimische Männer, die unser westliches Wertverständnis nicht teilen, das Grundgesetz nicht anerkennen, Frauen missachten und hier am liebsten die Scharia einführen möchten.
Woher kommt diese Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur? Und wie wenig Vertrauen haben diese Populisten in die “soft power” und Attraktivität unseres Gesellschaftsmodells?
Islam und Säkularisierung sind keine Gegensätze
Wenn wir die Flüchtlinge mit ihrer Identität willkommen heißen und wir ihnen nicht das Gefühl geben, nur geduldet zu sein, werden sich die meisten schnell unsere gesellschaftlichen Werte zu eigen machen. Warum sollten muslimische Frauen nicht selber entscheiden wollen, ob sie studieren wollen? Oder warum sollten sich homosexuelle Muslime verstecken müssen, nur weil ihr Iman Homosexualität als Sünde sieht?
Vielleicht sehen das ihre Ehemänner, Väter und Brüder anders, aber – wie CDU-Generalsekretär Peter Tauber laut FAZ kürzlich in seinem Blog andeutete: vieles von dem, was er von Flüchtlingen in Deutschland erwartet, sei bis vor kurzem auch in den meisten CDU-Ortsvereinen noch nicht mehrheitsfähig gewesen. Gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit, bei Christen wie bei Muslimen.
Islam und Säkularisierung sind keine unüberwindbaren Gegensätze, wie man am Iran vor der Revolution 1979 oder an der Türkei Kemal Atatürks sehen kann. Auch die kurdischen Gebiete in der arabischen Welt sind bisher nicht von der dschihadistischen Ideologie des IS beeinflusst worden.
Natürlich gibt es auch unter Muslimen religiöse Fanatiker, die vernunftgeleiteten Argumenten gegenüber nicht empfänglich sind. Aber sie sind nur eine Minderheit, wie der Journalist Jaafar Abdul Karim schreibt, der für die Deutsche Welle kürzlich eine Reportage aus dem Brüsseler “Islamistenviertel” Molenbeek gedreht hat.
Selbstzweifel machen eine Gesellschaft angreifbar
Umgekehrt gilt, dass eine Gesellschaft, die von Selbstzweifeln geplagt ist, angreifbar wird für kulturelle Revolutionen. Auf dieser Idee basiert der lesenswerte Roman des französischen Autors Michel Houellebecq (“Unterwerfung”), in dem die Partei der Muslimbrüder die Macht in Frankreich übernimmt und umgehend eine Reihe von Reformen wie die Legalisierung der Vielehe anstößt, die den Prinzipien der französischen Republik widersprechen (hier meine Amazon-Rezension).
Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die “Kulturrevolution” in Europa von rechten Populisten vorangetrieben wird, die ein simplizistisches Bild von Muslimen als Feindbild nutzen, um die Macht in den Parlamenten zu erringen.
Ich hoffe, dass wir im neuen Jahr mehr Vertrauen in die Attraktivität und Stärke unseres Rechtsstaats und unserer Gesellschaft haben und dadurch weniger anfällig für die Verführungen rechter Populisten werden.
Natürlich sind auch unsere Gesellschaft und unser Rechtssystem nicht perfekt. Die pädophilen Priester des Canisius-Kollegs zum Beispiel wurden nicht vor ein weltliches Gericht gestellt, sondern vor ein religiöses Kirchengericht und haben nur eine milde Strafe erhalten – eine religiöse Gerichtsbarkeit gibt es also nicht nur im Islam, sondern auch im Christentum, auch in der Bundesrepublik.
Die Stärke unserer Gesellschaft ist ihre Veränderungsfähigkeit
Aber die Stärke unserer Gesellschaft besteht in der Fähigkeit der Veränderung – das unterscheidet sie von nicht-säkularen Gesellschaftssystemen, die sich mit gesellschaftlichen Veränderungen schwerer tun, weil sie an überlieferte Schriften gebunden sind. Nicht jeder wird immer mit jeder Veränderung einverstanden sein – aber sie beruht auf einem gesellschaftlichen Konsens.
Angst vor der Islamisierung des Abendlandes muss nur haben, wer nicht an unsere Werte und die Stärke unserer Gesellschaft glaubt.
Foto: AwayWeGo201, Lizenz: CC BY 2.0