Die Kapitalismus-Debatte in Deutschland treibt absurde Blüten — das merkt man unter anderem daran, dass die Antisemitismus-Keule wieder hervorgeholt wurde, diesmal vom “jüdischen” (spiegel.de) Historiker Michael Wolffsohn, Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.
Müntefering, so Wolffsohn, bediene sich mit seinem Heuschrecken-Vergleich derselben Sprachbilder wie die Nazis, indem er Menschen mit Tieren vergleiche; zudem hätten in der schwarzen Liste mit ultra-kapitalistischen Unternehmen mindestens zwei jüdische Namen, was auf einen zumindest latenten Antisemitismus schließen liesse.
Die Fabel vom Mensch-Tier Vergleich
Dass Menschen mit Tieren vergleicht werden, ist dabei keine Erfindung der Nazis (die waren sowieso relativ einfallslos): Es gibt sogar eine ganze literarische Gattung (die Fabel), die sich damit beschäftigt, Menschen mit Tieren zu vergleichen. Außerdem: “Der isst wie ein Schwein!” ist vielleicht nicht besonders höflich, aber auch nicht nationalsozialistisch. Und niemand hat jemals Helmut Schmidt, dem Erfinder des Wortes “Raubtierkapitalismus” Antisemitismus vorgeworfen.
Die “schwarze Liste”
Wolffsohn bemerkt: “Man reibt sich die Augen und will es nicht glauben: In der größten Regierungspartei des heutigen Deutschland kursiere eine schwarze Liste von vermeintlich hyperkapitalistischen Unternehmen. Mindestens zwei sind ‘jüdisch’ bzw. tragen jüdische Namen”, und fügt richtigerweise hinzu: “Das wird, anders als ‘damals’, natürlich nicht offen erwähnt, doch wer’s weiß, der weiß.”
Entscheidend ist nicht, dass die Unternehmen “jüdisch” sind, sondern, “wer’s weiß, der weiß”, dass die genannten Unternehmen keine deutschen Firmen sind, sondern anglo-amerikanische. Es geht in der Kapitalismus-Debatte nicht um “jüdisch vs. deutsch” (die Zeiten sind nun wahrlich vorbei), sondern um “europäisch vs. anglo-amerikanisch”, um das europäische Wirtschaftsmodell, die “soziale Marktwirtschaft”, oder den neoliberalen Kapitalismus amerikanischer Prägung.
Kapitalismus-Kritik oder Kapitalisten-Kritik?
Zu guter Letzt: Müntefering vergleicht nicht Menschen (also Individuen) mit Tieren, sondern ein kapitalistischen System, dass in der Tat in machen Fällen “unmenschliche” Züge aufweist. Auch insofern weist die Wolffsohn-Kritik in die falsche Richtung. Es sind nicht die einzelnen Menschen innerhalb eines Systems Ziel von Münteferings Kritik, sondern die Strukturen und Organisationen (oder Unternehmen), die gerade die unmenschlichen Züge dieses Systems ausnutzen.
Fazit: Die richtige Debatte im falschen Ton
Was bleibt also nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen von der Kapitalismus-Debatte in Deutschland? Vermutlich nicht viel — leider zum Glück.
Leider, weil es in der Tat eine Debatte über die Zukunft des Kapitalismus braucht. Derzeit wird in Brüssel um das europäische Sozialmodell gestritten — und die Frage, ob es ein solches überhaupt gibt. Ich behaupte “ja”: Das europäische Wirtschaftsmodell weiß um die Stärken eines ausgeprägten Sozialsystems zur Unterstützung der wirtschaftlichen Funktionen eines Gemeinwesens. Das europäische Modell betont Freiheit und Sicherheit, und wie diese beiden Werte zusammenpassen, darüber muss debattiert werden.
Zum Glück, weil Müntefering sich in der Tat im Ton vergriffen hat. Nicht, weil es prinzipiell unmoralisch ist, Menschen (oder ein System) mit Tieren zu vergleichen, sondern weil die Unternehmer Teil des Sozialsystems sind: Sie finanzieren die Beiträge zu immerhin fünfzig Prozent! Und viele wissen, dass das Sozialsystem ihnen auch Sicherheit gibt und schätzen den Standort D. Mit seiner plumpen Wahlkampfrhetorik fördert Müntefering ein schwarz-weißes Lagerdenken, was weder glaubwürdig ist noch einen konstruktiven Dialog ermöglicht.
Die Zeit des Klassenkampfes ist vorbei — Arbeitnehmer und Arbeitsgeber müssen gemeinsam dafür eintreten (und tun dies häufig bereits), dass das Sozialsystem gerecht und das Wirtschaftssystem effizient ist.
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