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Hans-Ulrich Wehler: Charismatische Herrschaft im 20. Jahrhundert

Hans-Ulrich Wehler: Charismatische Herrschaft im 20. Jahrhundert

Hans-Ulrich Wehler ist nicht nur einer der prominentesten, sondern auch einer der umstrittensten Historiker Deutschlands, der mit seinen oft provokanten Thesen mehr als eine Debatte in den Feuilletons der Republik ausgelöst hat. Selbstverständlich also, dass ich es mir nicht entgehen lasse, ihn anlässlich einer Vortragsreihe in Bochum zu sehen.

Das Thema des Vortrages passt zum heutigen 60. Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler, denn Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach das grundlegende Problem in seiner heutigen Rede im Bendlerblock an: Es waren nur einzelne Deutsche, die dem Nazi-Staat Widerstand leisteten. Aber worin liegt der populäre Erfolg Adolf Hitlers?

Spielten gesellschaftliche Strukturen eine Rolle bei der Machtergreifung Adolf Hitlers 1933? Oder war es alleine die mitreißende Persönlichkeit des selbsternannten Führers, die das diktatorische Nazi-Regime ermöglichte? Hans-Ulrich Wehler beantwortet diese Fragen mit seinem Konzept der “charismatischen Herrschaft”, das Wehler im aktuellen Band seiner “Deutschen Gesellschaftsgeschichte” entwickelt.

Charismatische Herrschaft, so Wehler, beruht auf der Erfahrung einer existentiellen Krise, während der in der Bevölkerung das Verlangen nach einer Führerpersönlichkeit wächst, die in der Phase des Darniederliegens einen Beweis besonderer Leistungskraft erbringt.

Als eine Art “politisches Sondertalent” verfügt diese Führerpersönlichkeit nicht nur über eigenes, sondern vor allen Dingen über askriptives, ihm zugeschriebenes, Charisma sowie eine ihm persönlich zu Gehorsman verpflichtete Gefolgschaft. Charismatische Herrschaft kommt zudem ohne Nachfolgeregelung aus, da die Herrschaft des Charismatikers ja gerade durch den Ausnahmezustand legitimiert und nicht institutionalisiert ist.

Über all diese Eigenschaften verfügte auch Hitler: Seine laute Rhetorik unterschied sich von derjenigen der “typischen”, bürgerlichen Politiker der Weimarer Zeit. Die Wirtschaftskrise von 1929 und die Erinnerung an die Prosperität des Reiches unter Bismarck führten zu einer weitverbreiteten Führersehnsucht. Hitler verlässt sich nicht auf die alten Institutionen, sondern stützt seine Macht auf seine Gefolgsleute in der SA.

Vor den anfänglichen militärischen Efolge Hitlers in Polen und Frankreich (“Da haben wir vier Jahre bei Verdun in den Stellungen gelegen und Hitler schafft das in vier Wochen”) trat der innenpolitische Terror der Nazis zurück.

Als Hitler die OHL übernahm, änderte er die Zugangsbedingungen zur Hitlerjugend: Tapferkeit und ideologische Ausrichtung werden zentrale Bedingungen für die Aufnahme. Aus diesem Personalreservoir rekrutiert Hitler das Jungoffizierskorps, in dem es auch in der Endphase des Zweiten Weltkrieges kaum Meutereien gibt, so eng sind die Offiziere auf den Führer eingeschworen.

Diese bedingungslose Loylität dem Führer gegenüber ist nur durch eine “Gesinnungsrevolution” vorstellbar, die neue Normen (etwa den Sozialdarwinismus) prägt und in der Gesellschaft verankert. So schuf Hitler die “Leistungsvolksgemeinschaft”, die auch kleinen Leuten den Aufstieg ermöglichte.

Hitlers Erfolg lässt sich aus dieser Kombination aus persönlichem Charisma und individueller Überzeugungskraft des Führers sowie den strukturellen Vorraussetzungen für eine charismatische Herrschaft erklären. Es sei ein Glück, so Wehlers Fazit, dass es in Deutschland nach 1945 keine existentielle Krise mehr gegeben habe, die die strukturellen Vorraussetzungen für charismatische Herrschaft gegeben habe.

War Hitler also keine große Ausnahme sondern eine Katastrophe, die verhindert hätte werden können? Nicht nur mit seinem Vortrag, auch mit seinem Buch löst Wehler wieder einmal eine Debatte aus.

Foto: Recuerdos de Pandora, Lizenz: CC BY-SA 2.0

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