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COVID-19, Innenstädte und Amazon – eine Weihnachtsgeschichte

COVID-19, Innenstädte und Amazon – eine Weihnachtsgeschichte

Seit Mittwoch letzter Woche sind die Geschäfte wieder zu (außer Douglas) und der Einzelhandel stimmt erneut die immer gleiche Klage über den Online-Handel an.

Meine Lockdown-Lektüre zur Zeit ist das sehr empfehlenswerte Buch „The Passion Economy“ des Journalisten Adam Davidson und die Geschichte, die Davidson in diesem Buch erzählt, liest sich wie eine perfekte Metapher für die marode Lage, in der sich der stationäre Einzelhandel befindet.

In der öffentlichen Debatte zeigen nun alle mit dem Finger auf Amazon und Co. Union und SPD wollen einem Zeitungsbericht zufolge sogar eine neue Paketsteuer für den Online-Handel einführen, um den Einzelhandel zu unterstützen. Aber sogar der Handelsverband HDE winkt bei dem Vorschlag ab.

Kurz: Es erinnert alles ein bisschen an die Diskussion vor zwanzig Jahren, als man darüber diskutierte, ob E-Commerce-Webseiten nicht auch wie der stationäre Einzelhandel um 19.00 Uhr schließen sollten.

Das Schlagwort dieser Debatte lautet „lebendige Innenstadt“, aber das Problem der Innenstädte ist nicht Amazon, sondern dass in den Fußgängerzonen zumeist Geschäfte sind, die Dinge verkaufen, die man überall kaufen kann.

In „The Passion Economy“ berichtet Davidson über den Bürstenherstellers Braun Brush, der Ende der 1990er Jahre in eine Krise geriet, weil viele der Industriebürsten, die das Unternehmen etwa zum Reinigen von Flaschen herstellt, inzwischen in vergleichbarer Qualität, aber zu erheblich günstigeren Preisen in China hergestellt werden.

Ungefährt so verhält es sich auch mit dem Einzelhandel und Amazon.

Als Amazon 2017 die Biomarkt-Kette Whole Foods übernahm, reagierten viele Händler auch in Deutschland mit Sorge: Will Amazon uns jetzt auch noch das stationäre Geschäft streitig machen?

Dabei kann man auch umgekehrt fragen: Wenn viele Händler ihre stationäre Verkaufsfläche als großen Kostennachteil sehen – warum sollte sich Amazon dann diesen Klotz ans Bein binden?

Es muss also irgendein Wert in diesen Flächen stecken, der von den Einzelhändlern bisher noch nicht vollständig gehoben werden konnte.

Zweitens hat der Einzelhandel die Digitalisierung nicht genug vorangetrieben. Dabei gibt es durchaus gute Initiativen wie etwa den E-Reader „Tolino“, der Hardware, Software und den lokaleln Buchhandel in einem Ökosystem miteinander verbindet.

In anderen Fällen wird die Digitalisierung des Einzelhandels allerdings bloß als Digitalisierung der Innenstadt missverstanden wie etwa bei der Online City Wuppertal.

Dabei lehrt das Buch „The Passion Economy“, dass im Kern einer Strategie nicht der Vertriebsweg, sondern ein unverwechselbares Produkt stehen muss – eine hochwertige Beratung, ein individueller Kundenservice oder einzigartige Produkte, die im auf Skalierung aufbauenden Onlinehandel keine Nische finden.

Der Bürstenhersteller Braun wirft inzwischen jedes Jahr hunderte von Produkten aus seinem Katalog, selbst wenn diese sich noch gut verkaufen. Wann immer ein Hersteller in Asien ein Produkt in ähnlicher Qualität und zu günstigeren Preisen herstellen kann, zieht sich Braun aus dem Markt zurück.

Und auch für den Einzelhandel gilt: Wo ein Onlinehändler das gleiche Produkt schneller und besser liefern kann, wird der Platz für den stationären Einzelhandel eng.

Braun hat sich inzwischen zu einem hochspezialisierten Anbieter von Industriebürsten entwickelt, die oft speziell für Kunden entworfen werden: Im Jahr 2004 landeten Braun-Bürsten an Bord der Mars-Rover Spirit und Opportunity auf dem roten Planeten.

Braun verkauft heute keine einfachen Bürsten mehr, sondern Lösungen für komplexe Probleme. Der stationäre Einzelhandel verkauft zu oft immer noch einfach nur Playmobil.


Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich sind lebendige Innenstädte ein erstrebenswertes Ziel – aber eine lebendige Innenstadt ist eben nicht gleichzusetzen mit einer x-beliebigen Einkaufsmeile. Ich würde mir wünschen, dass wir auch in Deutschland die Idee einer 15-Minuten-Stadt aufgreifen würden, mit der Paris gerade von sich Reden macht

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