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Benedikt Herles: Zukunftsblind

Benedikt Herles: Zukunftsblind

Die Digitaldebatte in Deutschland ist in der Regel binär, wie auch der Rückzug von Robert Habeck aus den sozialen Netzwerken heute gezeigt hat: Dafür oder dagegen – drin oder draußen. Die ideologisch motivierte Polarisierung spiegelt sich auch in den Büchern wieder, die hierzulande zum Thema veröffentlicht werden.

Das Buch von Benedikt Herles ist anders. Es lässt sich nicht in ein Lager einordnen. Vor allem aber gelingt es dem Investor und Buchautor, dem man eigentlich unterstellen könnte, einen überwiegend wirtschaftlichen Blickwinkel auf das Thema einzunehmen, auch die politische und gesellschaftliche Dimension der digitalen Transformation in seiner gesamten Tragweite zu vermitteln.

Wie kann sich der Sozialstaat in Zukunft finanzieren?

Eindrucksvoll schildert Herles, wie neue gentechnische Methoden es ermöglichen, das menschliche Erbgut kostengünstig zu verändern, wie Unternehmen im Silicon Valley an der Unsterblichkeit arbeiten oder wie der Einsatz von Robotern und Algorithmen in der Wirtschaft zu einer zunehmenden Spaltung zwischen den Abgehängten und den Superreichen führt.

Man muss dem Autor dabei nicht einmal in jeder Hinsicht folgen; selbst wenn nur ein Drittel seiner Vorhersagen eintritt, bedeutet das einen fundamentalen Wandel in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben.

Weil unser Sozialsystem etwa auf der Besteuerung von Lohn basiert, wirft der zunehmende Einsatz von Robotern und Künstlicher Intelligenz in Unternehmen die grundlegende Frage auf, wie unser Sozialstaat in Zukunft finanziert werden soll.

Die Entstehung des heutigen Sozialstaats ist eng mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts verbunden. Aber zu dieser Zeit vollog sich der technologische Fortschritt linear. Es dauerte Jahrzehnte, bis Automobile das Pferd als das dominante Fortbewegungsmittel ablöste und noch einmal so lange bis moderne Fabriken das Handwerk ablösten.

In der Politik betrifft das innovator’s dilemma uns alle

Heute leben wir jedoch in einer Zeit des exponentiellen Wachstums, frei nach dem Mooreschen Gesetz, wonach sich die Rechenpower von Computerchips alle zwölf bis 24 Monate verdoppelt. Die Politik, so Herles, ist dieser Dynamik schlicht nicht gewachsen und immer noch in einer Industriegesellschafts-Logik verhaftet.

Hier beginnt der wirklich spannende Teil von “Zukunftsblind”, denn Herles sieht die Politik in einer Art innovator’s dilemma gefangen: das, was erfolgreiche Startups ausmacht – Agilität, Flexibilität, Diversität – ist aus Sicht der Politik ein Risikofaktor. Stattdessen denken Parteien wie Konzerne: sie versuchen, Risiken zu minimieren, verpassen dabei jedoch viele Chancen. Kurz: ihr Erfolg in der Vergangenheit versperrt ihnen den Erfolg in der Zukunft.

Was ist der Wirtschaft aber lediglich ein Problem für Aktionäre und Mitarbeiter wäre, betrifft in der Welt der Politik das gesamte Gemeinwesen – also uns alle.

Eine neue Sichtweise auf Politik

Dennoch ist “Zukunftsblind” gerade keine Politikerschelte – im Gegenteil. Herles’ “Zehn-Punkte-Plan”, der das Buch abschließt, bietet innovative Auswegen aus dem politischen innovator’s dilemma. Auch hier gilt: nicht alle Vorschläge werden jedem Leser gleichermaßen sinnvoll oder umsetzbar erscheinen, aber sie halten, was der Autor verspricht: sie durchbrechen die gängige politische Logik und bieten eine neue Sichtweise auf die Art und Weise, wie man über Politik nachdenken kann.

“Zukunftsblind” ist das erste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe – und zugleich meine erste Buchempfehlung. Die Parlamentsbuchhandlung sollte einen extra großen Schwung bestellen.

Foto: Franki Chamaki / Unsplash

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View Comments (4)
  • Was Staaten von Start-Ups unterscheidet: Sie dürfen nicht scheitern und sie müssen nicht wahnwitzigen Reichtum produzieren. Deswegen haben sie einen anderen Umgang mit Risiken.

    Der Erfolg gibt zum Beispiel der Bundesrepublik recht: Den Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft und von dort zur Dienstleistung hat ganz okay geklappt.

    Vorhersagen treffen in der Regel nicht zu, weil die Autoren ihr eigenes Feld der Expertise total überschätzen.

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