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Warum zweifeln wir?

Warum zweifeln wir?

Unser Alltag ist von Wissenschaft geprägt. Gesundheit, Ernährung, Energieversorgung und Kommunikation beruhen auf modernen Technologien und neuester Forschung. Aber trotz des rasanten technologischen Fortschritts leben wir heute nicht in einer rationalen, auf Vernunft aufgebauten Gesellschaft.

Im Gegenteil: angesichts der erbittert und kompromisslos geführten Proteste gegen moderne Landwirtschaft und grüne Gentechnik, Atomenergie oder Fracking scheint es, als sei der Zweifel und nicht das Wissen der zentrale Leitgedanke unserer Zeit.

Lügenpresse – Lügenwissenschaft

Beispiel Gentechnik: anlässlich der “Grünen Woche” demonstrierten Anfang des Jahres 50.000 Menschen gegen grüne Gentechnik. Dabei haben Wissenschaftler der Universität Göttingen nach einer systematischen Auswertung von 147 Studien herausgefunden, dass die Gentechnik viele Vorteile für Umwelt und Landwirte hat.

Für FAZ-Autor Joachim Müller-Jung sind die Demos Ausdruck einer vermeintlichen “Verschwörung der Großkopferten gegen das Volk, eine der Mächtigen gegen ihre Bürger und eben eine Verschwörung der Wissenschaft gegen die selbstgebastelte Wahrheit der Protestler”.

Natürlich: auch Wissenschaftler haben nicht immer Recht. Wie jeder Mensch tendieren sie dazu, ihre eigenen (Vor-) Urteile zu bestätigen. Deswegen unterziehen Forscher ihre Studien einem Peer-Review-Verfahren und stellen sich der Kritik anderer Wissenschaftler. Wir Wutbürger haben es da einfacher und richten es uns bequem in unseren Vorurteilen ein.

Das Internet wirkt dabei oft wie ein Brennglas: die amerikanische Impf-Gegnerin Jenny McCarthy verkündete stolz bei Oprah Winfrey: “The University of Google is where I got my degree from”. Angesichts des jüngsten Masern-Todesfalls eines Kleinkinds in Berlin macht solch eine Ignoranz sprachlos.

Campact – die Bild-Zeitung unter den NGOs

Beispiel TTIP: “Wie konnte es so weit kommen, dass ein Abkommen, das noch lange nicht beschlossen ist, dessen genauer Text nicht bekannt ist, das aber so kompliziert sein wird, dass kaum einer es versteht, solchen Protest und solche Ängste auslöst?”, fragt die FAZ. Die Antwort: eine pessimistische Handelsexpertin, die “Bild-Zeitung unter den Nichtregierungsorganisationen” und ein tiefsitzendes Misstrauen gegen die Politik haben das wichtige Handelsabkommen an den Rand des Scheiterns gebracht.

Es klingt wie die organisierte Verantwortunglosigkeit, wenn der damalige Handelskommissar Karel de Gucht sagt, er fühle sich von den nationalen Regierungen alleine gelassen: “Die nationalen Regierungen haben das Verhandlungsmandat zwar beschlossen, aber sie haben nicht dafür gekämpft.” Zwei seiner besten Leute hätten über die Verhandlungen einen Burnout erlitten.

Soziale Identität ist wichtiger als Wahrheit

Das Problem: mehr Informationen führen nicht zu mehr Aufklärung. Das ist das Ergebnis einer Studie des Yale-Professors Dan Kahan. In einem Experiment hat er herausgefunden, dass Menschen nicht in erster Linie an der Wahrheit interessiert sind, sondern die Realität so interpretieren, dass sie ihren sozialen Bedürfnissen entsprechen. Ihre Identität und die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ist ihnen wichtiger als die Suche nach der Wahrheit. Derselbe Mechanismus funktioniert auch in der Politik: Parteiräson schlägt reason.

Das Ergebnis der Kahan-Studie scheint auf den ersten Blick deprimierend. Aber Kahan ist überzeugt, dass Wissenschaftler Unterstützung für ihre Forschung bekommen können, wenn sie das Bedürfnis der Menschen, ihre soziale Identität zu beschützen, berücksichtigen. Das Problem: so lange soziale Gruppen mit Wissenschaftskritik den Zusammenhalt ihrer Gruppe fördern können, wird auch eine bessere Wissenschaftskommunikation sie nicht davon abhalten.

Der technologische Fortschritt unserer Gesellschaft hängt heute weniger von der Genialität unserer Forscher ab als von einem Narrativ, dass die soziale Akzeptanz der Wissenschaft fördert.

Foto: BUNDjugend, Lizenz: CC BY 2.0

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