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Wozu brauchen wir Politikwissenschaft?

Wozu brauchen wir Politikwissenschaft?

Die deutsche Politikwissenschaft wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Demokratiewissenschaft gegründet. Diese Eigenheit unterschied das Fach auch deutlich von den Rechtswissenschaften: “die juristische Staatslehre entspricht dem Obrigkeitsstaat, Politikwissenschaft der Demokratie”, so fasste es zeitgenössischer Beobachter das Selbstverständnis der Politikwissenschaften auf den Punkt.

Aber welche Rolle spielt die Politikwissenschaft heute? Das war die Kernfrage des Jahreskonferenz der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW), die sich zu ihrem 60. Gründungsjubiläum am vergangenen Wochenende in Berlin traf. Als Wissenschaft ohne einer gemeinsamen Methodik leidet das Fach unter einer ausgeprägten Ausdifferenzierung und deswegen einem etwas “schwammigen” Bild nach Außen. Juristen, Mediziner und andere “alte” Wissenschaften können sich zurücklehen, so der Jurist Christoph Möllers (Humboldt-Universität) in seinem Impulsvortrag. Ihre Fächer wird es voraussichtlich immer geben. Die Politikwissenschaft müsse jedoch stets Innovationen hervorbringen, um relevant zu bleiben.

Klaus von Beyme, einer der bekanntesten deutschen Politikwissenschaftler weltweit, fasste die Aufgabe der Politikwissenschaft in einem Dreiklang zusammen: eine Analyse dessen, was ist, eine Prognose dessen, was sein könnte und eine normative Hoffnung was sein sollte. Dem widersprach Helmut König, Professor für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen. Politikwissenschaftler seien keine Ingenieure, die soziale Wirklichkeit gleichsam konstruieren können. Er führte vier zeithistorische “Schiffbrüche” auf, die nicht von der Wissenschaft vorhergesagt wurden: der Untergang der Sowjetunion 1989, die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001, die Finanzkrise von 2008 und die Atomkatastrophe von Fukushima im März diesen Jahres.

Uneinigkeit herrschte auch bei der Bewertung der Ausdifferenzierung des Fachs. Während Christopher Daase (Universität Frankfurt) kritisierte, dass aus de Methodenstreit zwischen Positivisten und Hermeneutikern eine weitgehende Ignoranz geworden sei, entgegnete Miriam Hartlapp (WZB), dass die Integration im Methodenbereich schon recht weit fortgeschritten sei.

Thomas Bräuninger (Universität Mannheim) erinnerte daran, dass die Streitkultur innerhalb der Politikwissenschaften recht wenig ausgeprägt ist und das unterschiedliche Denkschulen oftmals die Existenzberechtigung der anderen Seite grundsätzlich in Frage stellen anstatt einen Ausgleich zu finden, der beiden Seiten gerecht wird. Manche Theorien – wie zum Beispiel der akteurszentrierte Institutionalismus von Fritz Scharpf – könnten jedoch in vielen verschiedenen Sub-Disziplinen angewandt werden und so auch eine integrierende Wirkung für das Fach haben.

Eine Kontroverse entstand auch rund um die Frage, was den eigentlich genau der Gegenstand der Politikwissenschaften sei. Ist es die effektive Organisation von Staaten nach Innen und die Beziehungen von Staaten untereinander oder ist es Macht (Markus Llanque) bzw. Macht und Legitimität (Hartlapp)?

An diesem Punkt setzte auch der abschließende Vortrag von Michael Zürn (WZB) über Perspektiven demokratischen Regierens im 21. Jahrhundert an. Zürn identifizierte eine Reihe von Herausforderungen für Demokratien im Innern und von Außen, etwa die zunehmende Auslagerung politischer Entscheidungen in “unpolitischen” Institutionen wie Gerichten, die Legitimierung autokratischer Staaten durch die Schaffung von Wohlstand als Ersatz für politische Freiheiten und den zunehmenden Einfluss von Internationalen Organisationen und anderen staatenlosen Akteuren. Die Frage der Legitimität des Regierens werde für das wieder an Bedeutung gewinnen, so Zürn in seiner beeindruckenden Rede.

Die Politikwissenschaft bleibt eine widersprüchliche Wissenschaft mit vielen unterschiedlichen Ansätzen, Theorien und Methoden. Ich stimme Llanque jedoch darin zu, dass der eigentliche Gegenstand der Politik die Macht ist. Und das Verständnis davon, wie Macht funktioniert – formal, wie es im Gesetz steht oder getragen durch informelle Netzwerke wie von Zürn beobachtet – ist essentiell für “public policy”, die Gestaltung des Gemeinwohls.

Viele Teilnehmer verwiesen zudem darauf, dass Politikwissenschaft auch Politikberatung sei. Auch hier gibt es allerdings Verbesserungsbedarf. Beratung sei immer ein Dialog, so Ulrich Schneckener (Universität Osnabrück) in einem Kommentar. Die Frage sei allerdings, was die Politikwissenschaft den Adressaten ihrer Beratung anbieten könne? Ein analytischer Blick auf Machtgleichgewichte und ein Schuss politische Strategie á  la Macchiavelli gehören für mich dazu.

Dieser Blogpost ist zuerst auf der Webseite thinktankdirectory.org erschienen.

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