Eines der neuen Themen auf dem diesjährigen Politcamp war das “delegated voting”, ein direktdemokratisches Verfahren, bei dem Wähler ihre Stimmen direkt an Themenexperten delegieren, und das als “liquid democracy” auch Eingang in die interne Entscheidungsfindung der Berliner Piratenpartei gefunden hat.
In einer Session mit dem Titel “Kann Technik politische Probleme lösen?” und in einem Blogpost stellte Michael Seemann (@mspro) das Thema “liquid democracy” genauer vor und verband es mit der Vision eines neuen politischen Systems, das Individualismus und kollektive Entscheidungsfindung verbindet und das deswegen wohl als “strukturierten Anarchie” bezeichnet wurde.
Man sollte allerdings skeptisch hinsichtlich der basisdemokratischen Potentiale von “liquid democracy” sein. Aus politikwissenschaftlicher Sicht sehe ich zumindest drei Schwierigkeiten.
Erstens: Welche Rolle spielen Werte und Normen? Parteien stehen ja nicht nur für Expertise in bestimmten Politikfeldern, sonden auch für Werte und Normen wie Religion, soziale Gerechtigkeit oder Liberalismus. Diese Werte sind wichtige Orientierungsmaßstäbe für die Wähler. Bei “liquid democracy” kommen diese Werte nicht oder nur am Rande vor, weil hier alles an Experten delegiert wird. Wenn aber eine Vielzahl von Experten unabhängig voneinander Politik gestaltet, wer sorgt dann dafür, dass alle einzelnen Politiken kohärent und nicht widersprüchlich sind? Anders gefragt: wer sorgt sich um das “Gemeinwohl”?
Zweitens: Laut Michael Seemann ist ein Effekt von “liquid democracy” das Verschwinden der politischen Klasse, weil jeder potentiell der Volksvertreter jedes anderen sein könne. Das wird glaube ich nicht eintreten. Einige Menschen werden sich sehr stark für Politik interessieren und deswegen “mehr Volksvertreter” sein als andere. Auch mit “liquid democracy” wird vermutlich eine Mehrheit der Bürger passiv bleiben. Im Ergebnis gäb es dann also doch wieder eine politische Klasse, welche das politische Geschehen dominiert. Zwar würde die Bedeutung von Parteien minimiert werden, dafür würden einzelne Stimmensammler überproportional viel Macht sammeln. Man muss sich das vermutlich so vorstellen, als ob Sascha Lobo Bundeskanzler würde.
Drittens: Es stellt sich auch eine ganz praktische Frage, nämlich wie Mehrheiten für schwierige Reformen organisiert werden können, wenn – wie es das Konzept der “liquid democracy” vorsieht – delegierte Stimmrechte bei Unzufriedenheit mit den Delegierten wieder abgenommen werden können? Die Delegation von Stimmen ist darüber hinaus anfällig für Korruption – mit gutem Grund ist das Wahlrecht in Deutschland deswegen nicht übertragbar.
Die Diskussion auf dem Politcamp über basisdemokratische Reformen erinnert ein wenig an die E-Democracy-Debatte in den 2000er Jahren: damals glaubten die Befürworter von E-Democracy daran, dass die Bürger ein intrinsisches Motiv für politische Beteiligung haben. Wenn man ihnen nur die Möglichkeit der Partizipation gebe, würde dies auch genutzt werden. Mit Enttäuschung wurde dann registriert, dass dies nicht der Fall war.
Umgekehrt glauben die Verfechter von mehr Basisdemokratie (darunter auch viele Piraten) heute, dass die anonyme “crowd” den Weg zu besserer Regierungsführung weist. Aber auch diese Hoffnung wird – sieht man von einzelnen Projekten wie “Fix my Street” ab – zu Enttäuschung führen. Politisches Engagement hat hohe Opportunitätskosten, und nur ein Bruchteil der Bevölkerung ist bereit, diese Kosten zu akzeptieren.
Unser Regierungssystem hat kein Beteiligungsdefizit, sondern ein Informationsdefizit. Um unsere Demokratie zu verbessern, sollte man deswegen nicht auf die Reform politischer Prozesse setzen, sondern auf die Verfügbarmachung von Informationen, etwa durch eine Open-Data-Initiative wie “Deutschland API”. Der demokratische Impuls, der von einer Open-Data-Initiative ausgehen würde, ist vermutlich um ein vielfaches höher als eine Reform des Wahlsystems.
Foto: Max Braun, Sascha Lobo, bisschen böse dreinschauend, Lizenz: CC BY-SA 2.0