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Die “Ruck”-Gesellschaft

Die “Ruck”-Gesellschaft

Ein Gespenst geht um in Deutschland: Das Gespenst des Rucks, der durch das Land gehen muss. 1997 sagte Bundespräsident Roman Herzog in einer Rede im Hotel Adlon jenen Satz, der seitdem die politische Debatte mal mehr, mal weniger beherrscht: “Durch Deutschland muss ein Ruck gehen.” Diese Wort vom Ruck elektrisiert bis heute die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Elite.

608 Einträge findet google.de bei der Suche nach dem Ruck-Satz. Daniel Dettling, Gründer des Berliner Think Tanks berlinpolis sah den Ruck schon gekommen und benannte gleich ein ganzes Buch danach: “‘Deutschland ruckt’. Die junge Republik zwischen Brüssel, Berlin und Budapest” (P.O.D.Print, Frankfurt/Main 2000). So schnell ging das mit dem befreienden Ruck dann aber doch nicht, deswegen wurde 2002 eine Kampagne unter der Schirmherrschaft von Roman Herzog initiiert, die den Deutschen mit dem Slogan “Deutschland packt’s an” Beine machen sollte.

Gebracht hat’s nichts – die Deutschen lassen sich auch von einer Koalition der größten deutschen Medien-Unternehmen, Verbände und Konzerne nicht zu einem Ruck bewegen.

In seiner heutigen Antrittsrede als Bundespräsident griff auch Horst Köhler den Satz mit dem magischen “R-Wort” auf und fragte: “Warum bekommen wir den Ruck noch immer nicht hin?”

Bald sind wir vielleicht soweit, zumindest, wenn es nach Paul Nolte geht, Historiker an der International University Bremen. In seinem Buch “Die Generation Reform” (C.H. Beck, 2004) beschwört er eben diese, deren tiefe Überzeugung es sei “dass die Bundesrepublik Deutschland in eine tiefe Krise hineingeraten ist, aus der die bisherigen Rezepte, der etablierten Verhaltensmuster älterer, aber auch jüngerer Generationen nicht mehr heraushelfen.” Endlich sei es an der Zeit, die “Verantwortung zur Veränderung” zu übernehmen.

Da weht ein Hauch von “Ruck” auch bei Paul Nolte. Die Ruck-Metapher ist schon längst der Fetisch der Jahrtausendwende, das Heilsversprechen der Moderne. Alles Leiden lässt sich damit aushalten, denn wir wüssten ja, wie es eigentlich funktionieren müsste. Der Ruck legitimiert den Stillstand. Auf der Linken wettert Prof. Rainer Roth während einer Demonstration gegen “den Sozialkahlschlag” am 01. November 2003 “Durch Deutschland muss ein Ruck gehen” und meint damit die Opposition gegen die Agenda 2010.

Umgekehrt fordert Joachim Weimann, Professor für Wirtschaft, auf einem Forum der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft am 14. Februar 2003 denselben Ruck und meint natürlich etwas ganz anderes, nämlich den Abbau von Bürokratie und Beschäftigungshürden auf dem Arbeitsmarkt und eine Erneuerung der Sozialsysteme.

Et voilá: Damit sind wir wieder in der Realität angekommen. Alle haben kräftig geruckt , geändert hat sich nichts.

Der Ruck-Mythos bleibt von solchen Widersprüchen übrigens seltsam unangetastet. Immer noch kann man sich mit Ruck-Metaphern als Modernisierer schmücken und die Hoheprieser der Ruck-Religion tun dies auch weiterhin. So lange, bis uns das Ruck-Wort genau so schal vorkommt wie der alte Fetisch der 90er Jahre: die Reform. Der steile Abstieg dieses Mode-Wortes zeigt, was auch dem “Ruck” droht.

Wer wirklich einen Ruck will, sollte deswegen vor der Mystizierung des Rucks warnen und statt dessen nicht den Ruck um des Ruckes willen, sondern den Ruck um einer bestimmten Idee willen fordern. Dazu müsste man aber erst einmal die Idee formulieren.

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