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Edgar Wolfrum: “Rot-Grün an der Macht”

Edgar Wolfrum: “Rot-Grün an der Macht”

Die Zeit der rot-grünen Bundesregierung zwischen 1998 und 2005 war geprägt durch eine Reihe fundamentaler Veränderungen in der Außen- und in der Innenpolitik. Außenpolitisch prägten der Krieg im Kosovo, der 11. September 2001 und die folgenden Kriege in Afghanistan und im Irak die politische Debatte, innenpolitisch ist die Regierung Schröder vor allen Dingen mit der Agenda 2010 und dem Atomausstieg im Gedächtnis geblieben.

Der Historiker Edgar Wolfram legt mit seinem Buch “Rot-Grün an der Macht” nun die ersten zeitgeschichtliche Analyse über diese wichtige Zeit vor. Für Wolfram bedeutete die Wahl 1998 nicht nur einen politischen, sondern auch einen kulturellen Wandel, weil mit den Grünen erstmals eine Partei an die Macht gelangte, die den neuen sozialen Bewegung entstammte und weil eine Reihe ehemaliger Aktivisten der 68er-Bewegung Regierungsverantwortung übernahmen.

Unter der Führung der “verlässlichen Achse” Gerhard Schröder und Joschka Fischer wurde Deutschland liberaler und moderner, etwa durch eine liberalere Einwanderungspolitik, eine Verbesserung der Situation gleichgeschlechtlicher Paare und die Schaffung des Verbraucherschutzes als neues Politikfeld. Dies, so Wolfrum, sei vor allen Dingen den Grünen geschuldet, die viele ihrer Themen auf die politische Agenda heben konnten.

In chronologischer Reihenfolge führt der Autor durch die Regierungsjahre und zeigt dabei auch, wie laienhaft sich die Regierung gerade zu Beginn ihrer Amtszeit verhielt. In Rekordzeit verwandelte sich die Aufbruchstimmung von 1998 in eine “Endzeitstimmung”. Dies war auch außenpolitischer Entwicklungen geschuldet, denn schneller als erwartet stand die rot-grüne Regierung bereits im März 1999 vor der Frage von Krieg und Frieden, als serbische Truppen die Albaner im kosovarischen Teil des Landes militärisch bedrängten.

Im Gefolge des 11. September blieb Außenpolitik das bestimmende Thema. Und die Bundesrepublik hatte international Gewicht: Rot-Grün betrieb, so Wolfrum, “eine aktive Außenpolitik mit globalem Geltungsanspruch”. Schröders “Nein” zum Irak-Krieg sieht Wolfrum allerdings nicht alleine dem Wahlkampf geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass Schröder überzeugt gewesen war, die Mehrheit für einen dritten Kriegseinsatz in nur vier Jahren nicht bekommen zu können.

Die im Schröder-Blair-Papier bereits vorweggenommenen Hartz-Reformen sind zweifellos das wichtigste innenpolitische Erbe von Rot-Grün – vor allem, weil das Thema die Republik spaltete. Politisch standen auch große Teile der Opposition, die die Agenda 2010 im Bundesrat mit beschlossen hatte, mit hinter der Reform. Der mediale Druck gegen die Reform war allerdings gewaltig, auch entgegen des Urteils der meisten Ökonomen, die die Reform durchaus lobten.

Die Reformen markierten zugleich den Anfang vom Ende der rot-grünen Regierung, die durch die Niederlage in Nordrhein-Westfalen ins Rollen gebracht wurde. Eine interne kam im Frühjahr 2005 zu dem Schluss, es habe sich “in der Bevölkerung eine geradezu reflexhafte Aversion gegen Rot-Grün gefestigt”. Auch ein atemberaubender Wahlkampf konnte diese Stimmung nicht mehr drehen.

In dieser letzten Phase der Regierung zwischen 2003 und 2005 ist das knapp 850 Seiten umfassendste Buch am stärksten. Denn neben öffentlich zugänglichen Quellen und den verschiedenen Büchern der Protagonisten hat Wolfrum auch eine Vielzahl von Interviews mit den Mitgliedern des rot-grünen Kabinetts geführt. So wirft das Buch etwas mehr Licht auf die Frage, was Kanzler Schröder mit der Ankündigung von Neuwahlen im Bund bezweckte. Wollte er sich ein populäres Mandat für die Agenda 2010 holen? Oder bereitete er insgeheim einen Koalitionswechsel vor, wie Joschka Fischer vermutete?

Wolfrum beschreibt die Regierung Schröder durchaus mit Sympathie, allerdings ohne dabei aber unkritisch zu werden. So entsteht eine lesenswerte Rückschau über eine “Zeit gesteigerter Reformtätigkeit”, die die Bundesrepublik maßgeblich geprägt hat. Für die beiden Koalitionspartner fällt das Fazit der rot-grünen Regierungszeit durchaus unterschiedlich aus: während die Grünen sich fest im deutschen Parteiensystem etablieren konnten, befand sich die SPD 2005 im “Stadium des Zerfalls”, so das Fazit Wolfrums.

Die Chancen für eine Neuauflage von Rot-Grün wirken vier Wochen vor der Wahl eher gering. Trotzdem ist offensichtlich: Die Zeit zwischen 1998 und 2005 hat die Bundesrepublik nachhaltig verändert und wirkt in vielerlei Hinsicht noch auf die Gegenwart ein. Auch deswegen ist das Buch für alle politisch Interessierten dringend zur Lektüre empfohlen.

Diese Rezension ist zuerst auf thinktankdirectory.org erschienen.

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